Achtzehn

Ohne sich um Patrick zu kümmern, der benommen und ermattet neben ihr lag, stand Charlotte auf, ging summend in das angrenzende Badezimmer, wusch sich und zog eins ihrer schönsten Kleider an, aus gelbem Batist, mit winzigen pinkfarbenen Vögelchen bedruckt. Dann kehrte sie ins Schlafzimmer zurück, ging an Patrick vorbei, ohne ihm auch nur einen Blick zu gönnen, und trat auf die Terrasse hinaus, um dort ihr Haar zu bürsten.

Sie spürte seine wachsende Ungeduld und seinen Ärger und lächelte, als er schließlich brüllte: »Charlotte!«

Sie ließ sich Zeit. Als sie endlich hineinging, blieb sie vor seinem Bett stehen und begann mit gleichgültiger Miene ihr geflochtenes Haar zu einer Krone aufzustecken.

Patrick richtete seinen Blick auf ihre Brüste, schluckte und brummte dann: »Falls du dachtest, du könntest mich umstimmen mit dem, was du gerade mit mir gemacht hast, damit ich dich nicht heimschicke nach Quade's Harbor, dann irrst du dich!«

Charlotte errötete. Patrick auf diese intime Weise zu verwöhnen, war eine höchst private Angelegenheit, darüber zu sprechen, brachte sie in Verlegenheit. »Ich habe nichts dergleichen gedacht«, erwiderte sie schlicht, und das war auch die Wahrheit.

»Nimm die Arme herunter!« fuhr er sie an. »Du machst mich ganz verrückt damit!«

Charlotte erfüllte seinen Wunsch, aber dann lächelte sie und sagte spöttisch: »Wie empfindlich du heute bist, Captain!«

Er schien seinen Ärger nur noch mühsam zu beherrschen. »Jede Frau kann tun, was du heute getan hast. Vergiß das nicht.«

Charlotte blieb stocksteif stehen, obwohl sie sich am liebsten wie ein wildes Tier auf ihn gestürzt hätte,um ihm die Augen auszukratzen. »Und jeder Mann kann tun, was du getan hast«, entgegnete sie ruhig. »Vergiß das nicht.«

Eine flammende Röte stieg von Patricks Hals zu seinen Wangen auf. »Das stimmt«, gab er nach langem Schweigen grollend zu.

Charlotte setzte sich auf die Bettkante und ordnete ihre Röcke. »Ich bin gestern Nora Ruffin begegnet«, bemerkte sie im Plauderton und beobachtete ihn durch ihre langen Wimpern.

Patrick schloß die Augen. »Geht es ihr gut?« fragte er.

Um nichts auf der Welt hätte Charlotte sich anmerken lassen, wie sehr diese schlichte Frage sie verletzte. »Ja«, antwortete sie. »Und Stella, Deborah und Jayne anscheinend auch. Die pflegen die Seeleute, die auf dem Schiff erkrankten.«

Seufzend suchte Patrick Charlottes Blick. »Ich nehme an, daß du mir jetzt Fragen nach Nora und den anderen stellen wirst.«

Charlotte war erstaunt über seine Bereitschaft, ein solch gefährliches Thema anzuschneiden. »Khalif scheint nicht der einzige zu sein, der sich einen Harem hält«, bemerkte sie spitz.

Patrick verdrehte die Augen. »Schön wär's«, erwiderte er belustigt. »Nora, Stella, Jayne und Deborah sind meine Mündel.«

Charlotte war fassungslos. »Was?« fragte sie ungläubig.

»Ja«, bestätigte Patrick müde. »Noras Vater gehörte zu meiner Mannschaft und starb an Wundbrand nach einer Beinverletzung auf den Fidschi-Inseln. Deborah und Jayne sind Schwestern, Waisen, die ich vor zwei Jahren in Riz einem Piraten abkaufte. Und Stella — nun, die ließ ihr Vater vor einigen Jahren bei mir zurück. Seitdem ist er nie wieder aufgetaucht.«

Eine leise Hoffnung erfaßte Charlottes Herz. »Dann hast du also keine Mätressen hier auf dieser Insel?«

»Das habe ich nicht gesagt«, entgegnete Patrick mit brutaler Offenheit.

Charlotte sprang auf. »Du hast hier eine Geliebte?«

Patrick betrachtete die Zimmerdecke. »Und wenn es so wäre?«

Wieder verspürte Charlotte einen gewalttätigen Impuls, und wieder unterdrückte sie ihn. »Dann merk dir eins«, sagte sie kalt. »Falls du mein Vertrauen enttäuschst, Mr. Trevarren, wird Rashad nicht mehr der einzige Eunuch in deinem Freundeskreis sein.«

Patrick überraschte sie mit einem rauhen Lachen. »Ach, Charlotte, Charlotte! Du regst mich manchmal maßlos auf aber niemand könnte dich je als langweilig bezeichnen!«

Charlotte stand nicht der Sinn nach Humor. »Du hast mir einmal Treue versprochen«, erinnerte sie ihn.

»Das war, als wir noch verheiratet waren.«

»Richtig!« versetzte Charlotte. »Und das Kind, das ich erwarte, hast du ebenfalls gezeugt, als wir noch verheiratet waren!«

Es sprach für Patrick, daß er immerhin verlegen wirkte. »Das scheine ich immer wieder zu vergessen.«

»Das ist mir schon aufgefallen.«

Stirnrunzelnd beugte er sich vor. »Was erwartest du eigentlich von mir? Ewige Treue? Gut. Solange wir zusammen sind und ein Bett miteinander teilen, kannst du darauf zählen.«

»Und wenn du mich nach Quade's Harbor abgeschoben hast?«

»Sei nicht albern«, entgegnete er scharf. »Erwartest du etwa von mir, daß ich für den Rest meines Lebens wie ein Mönch lebe?«

Ja, dachte Charlotte unglücklich. »Natürlich nicht«, sagte sie laut. »Ich habe ja auch nicht vor, dahinzuwelken wie ein Frühlingsveilchen an einem Augusttag, wenn du mich in Quade's Harbor abgeladen hast und munter davongesegelt bist. Du warst es, der mich in die körperliche Liebe eingeführt hat, Patrick, und der mich lehrte, sie zu genießen. Natürlich werde ich mir einen Liebhaber nehmen. Aber mach dir keine Sorgen, ich werde diskret sein.«

Wieder errötete er vor Zorn. »Das wäre sehr unschicklich«, wandte er ein. »Glaubst du, ich möchte, daß mein Kind von einer Frau erzogen wird, die ... die einen schlechten Ruf hat?«

Charlotte lächelte verhalten. Es war alles nur leeres Gerede, aber das brauchte Patrick nicht zu wissen. »Es ist mir egal, ob es unschicklich ist oder nicht, und was du willst, ist mir noch viel gleichgültiger. Ob es dir nun paßt oder nicht, ich werde eine stadtbekannte Lebedame sein, die Leute werden über mich reden, und ich werde es genießen.«

»Charlotte!« rief Patrick erschüttert, und sie war entzückt.

Nachdenklich schritt sie vor seinem Bett auf und ab. »Ich weiß nur nicht, ob es ratsam wäre, Anzeigen aufzugeben ...«

»Anzeigen?« entgegnete Patrick schockiert. »Anzeigen?«

»Ja«, erwiderte Charlotte abwesend. »Ich möchte natürlich eine bestimmte Art von Mann haben, attraktiv, unterhaltsam und mit beträchtlichen Erfahrungen auf dem Gebiet der Erotik ...«

»Mein Gott, Charlotte!« Patricks Schrei ließ die Fensterscheiben rappeln. »Falls du das alles nur erzählst, um mich zu ärgern, ist es dir bereits gelungen!«

Sie lächelte wie eine Katze, die sich mit einer Maus vergnügt. »Willst du damit sagen, daß du das Recht besitzt, dir so viele Frauen zu nehmen, wie du willst, aber von mir erwartest, daß ich meine Tugend bewahre, bis mein Körper zu Staub zerfällt?«

Patrick zögerte. »Ja«, gestand er dann, und es klang schmollend wie bei einem kleinen Jungen.

»Ich fürchte, das ist unmöglich«, erwiderte Charlotte liebenswürdig, wandte sich ab und ging hinaus. Summend.

Patrick schleuderte etwas gegen die Tür und fluchte laut.

Nach einem Tag, den sie der Erforschung der näheren Umgebung und ihrem Zeichnen gewidmet hatte, aß Charlotte mit Mr. Cochran zu Abend. Später zog sie sich in Patricks Arbeitszimmer zurück und las einen pikanten Roman aus einem der oberen Fächer des Regals.

Es war schon sehr spät, als sie in Patricks Zimmer zurückkehrte, durch die Verandatüren schien ein silbriger Mond herein.

Eine metallgefaßte Brille auf der Nase, die Charlotte noch nie an ihm gesehen hatte, saß der Kapitän in einem Lehnstuhl am Kamin und las Chaucer.

Bei Charlottes Eintreten schloß er das Buch, machte jedoch keine Anstalten, sich zu erheben. »Bist du gekommen, um mich weiterzuquälen?« erkundigte er sich mürrisch.

Charlotte unterdrückte das Kichern, das in ihrer Kehle aufstieg. »Wer freiwillig Chaucer liest, ist durchaus imstande, sich selbst zu quälen, ganz ohne meine Hilfe.«

Einen flüchtigen Moment huschte ein Lächeln über Patricks Züge, dann kehrte sein mürrischer Ausdruck zurück. »Was machst du hier?«

»Das dürfte offensichtlich sein, selbst für jemanden, der so gefühllos ist wie du. Ich kam, um meine ehelichen Rechte zu fordern, und danach beabsichtige ich zu schlafen.« Manchmal war Charlotte über ihren eigenen Mut verblüffter als jeder andere.

»Deine ehelichen Rechte!« wiederholte Patrick gereizt. »Haben Sie vergessen, Miss Quade, daß wir nicht mehr verheiratet sind?«

»Vielleicht nicht gesetzlich«, stimmte Charlotte zu. »Aber moralisch besteht eine Bindung zwischen uns, und das werde ich dich nicht vergessen lassen.« Plötzlich begann sie das alles sehr amüsant zu finden. Sie deutete auf das Bett. »Leg dich hin, Patrick. Ich begehre dich.«

Fast hätte sie gelacht über Patricks Erröten. Er war so verblüfft, daß er sich verhedderte, als er etwas sagen wollte.

»Na schön«, meinte Charlotte leichthin und wandte sich ab, um ihre Belustigung zu verbergen. »Wenn du nicht freiwillig mitmachst, muß ich die Sache eben — wie sagt man doch? selbst in die Hand nehmen.«

Das Buch fiel klappernd auf den Boden, mit einem wütenden Aufschrei packte Patrick Charlotte an den Schultern und drehte sie zu sich herum. »Was willst du mit deinem Benehmen erreichen? Mich in den Wahnsinn treiben?« fuhr er sie an.

»Nein«, entgegnete sie kühl. »Ich benehme mich nicht anders, als es Männer Frauen gegenüber tun — täglich und überall.«

Patrick war verblüfft. »Und was hat das mit uns ...«

»Es hat sehr viel mit uns zu tun«, unterbrach Charlotte ihn, »und das weißt du genauso gut wie ich.« Gelassen und in dem angenehmen Bewußtsein, Patrick aus der Fassung gebracht zu haben, begann sie ihr Mieder aufzuknöpfen. »Ich habe mich heute abend beim Essen mit Mr. Cochran unterhalten«, bemerkte sie. »Er sagt, deine Männer hätten sich recht gut erholt.«

»Das weiß ich. Cochran erstattet mir täglich Bericht.«

Charlotte trug jetzt nichts mehr als ihre Haut und ihren guten Willen, Patricks Blick war eindringlich wie eine Berührung, und Charlotte sonnte sich in der Bewunderung, die er ihr zollte. »Hat er dir gesagt«, fuhr sie fort, »daß sie in den letzten Tagen Fässer und Reste von Schiffstauen am Strand gefunden haben?«

»Ja«, antwortete Patrick, der widerstrebend begonnen hatte, sich ihr zu nähern. »Irgendein Schiff muß in Seenot geraten sein, denn die Wrackteile sind nicht von der Enchantress.«

»Könntest du nicht Hilfe zu dem Schiff hinausschicken?«

»Wie?« entgegnete Patrick ungeduldig. »In einem Eingeborenenkanu? Bis ein Schiff anlegt, sitzen wir hier fest, Charlotte. Es könnte Monate dauern, vielleicht sogar ein Jahr, bis wir einen Fremden auf der Insel sehen.«

Das war eine Vorstellung, die für Charlotte durchaus ihren Reiz besaß. »Hm. Das dürfte es dir erschweren, mich heimzuschicken.«

»Sind wir jetzt wieder beim Thema?« versetzte Patrick entsetzt.

Charlotte legte die Hände auf seine Brust und spürte, wie sein Herzschlag sich beschleunigte. »Ich habe alles gesagt, was es zu diesem Thema zu sagen gab. Küß mich jetzt, Patrick.«

Verlangend betrachtete er ihren Mund, um dann abrupt zurückzuweichen. »Du wirst dich doch nicht in eine dieser verfluchten modernen Frauen verwandeln wollen?« erkundigte er sich mißtrauisch.

Charlotte schlang lächelnd die Arme um seinen Hals und verschränkte die Hände in seinem Nacken. »Keine Angst, Patrick. Ich bin dazu erzogen worden, eine dieser modernen Frauen zu sein.«

Patrick seufzte. »Na schön«, murmelte er ergeben. »Du hast gewonnen — ich bringe weder die Kraft noch den nötigen Scharfsinn für deine Spielchen auf. Mach mit mir, was du willst.«

Der Ernst seiner kurzen Rede ließ Charlotte auflachen, dann zog sie seinen Kopf zu sich herab zu einem langen Kuß.

Danach war nicht mehr zu sagen, wer mit wem machte, was er wollte.

Charlotte saß am nächsten Morgen beim Frühstück auf der Veranda, als Mr. Cochran erschien und aufgeregt nach Patrick fragte.

»Er ist in seinem — unserem Schlafzimmer«, antwortete sie und erhob sich verwundert, als sie eine Gruppe von Eingeborenen erblickte, die eine Bahre mit einem halbnackten Mann herbeitrugen.

»Was ist geschehen? Ist der arme Mann ertrunken?«

Mr. Cochran schüttelte den Kopf. »Nein, Madam, was ein wahres Wunder ist. Die Fischer haben ihn am Strand gefunden.« Der erste Maat räusperte sich. »Er ist in einem solch bedauernswerten Zustand, daß ich es für klüger hielt, ihn nicht bei den Seeleuten unterzubringen. Er ist so schwach, daß er sich anstecken würde.«

Charlotte nickte, raffte ihre Röcke und ging auf die Bahre zu.

Mitleidig betrachtete sie den Bewußtlosen, der wie Strandgut an die Küste geschwemmt worden war. Mit seiner eher schwächlichen Statur und dem hellbraunen Haar besaß er nicht die geringste Ähnlichkeit mit Patrick, doch irgend etwas an ihm rührte ihr Herz.

Jacoba befahl den Männern, den Schiffbrüchigen in ein Zimmer im Erdgeschoß zu bringen. Er hatte einen Stiefel verloren, und seine braune Hose hing in Fetzen um seine Beine und war völlig durchnäßt. Ein Zittern erfaßte ihn, als Jacoba und Mary Fängt-viel-Fisch ihn entkleideten.

»Seien Sie unbesorgt, Fremder, Sie sind jetzt unter Freunden, wir werden uns um Sie kümmern«, sagte Jacoba tröstend, bevor sie sich an Mary wandte. »Hol warmes Wasser, Handtücher und den Rum, den ich für den Weihnachtskuchen aufhebe.«

»Kann ich mich irgendwie nützlich machen?« fragte Charlotte.

Bevor Jacoba antworten konnte, erklang Patricks Stimme von der Tür her. »Du wirst den Raum sofort verlassen!« befahl er.

Charlotte warf ihm einen trotzigen Blick zu. »Ich besitze Erfahrung auf dem Gebiet der Krankenpflege«, erinnerte sie ihn.

»Mag sein, aber Jacoba hat schon Kranke gepflegt, als du noch in den Windeln stecktest. Sie braucht deine Hilfe nicht.«

Jacoba schaute von Captain Trevarren zu seiner Frau. »Ich möchte niemanden im Weg haben, Captain«, sagte die Schottin streng. »Am liebsten wäre mir, wenn Sie beide verschwinden würden, damit ich mich um diesen armen Teufel hier kümmern kann. Schauen Sie ihn an — er ist grau wie eine Leiche!«

Wäre die Lage nicht so ernst gewesen, hätte Charlotte über Patricks verblüfften Gesichtsausdruck gelacht. Es war offensichtlich, daß es ihm widerstrebte, wie ein kleiner Junge fortgeschickt zu werden, und er schloß sich Charlotte nur widerstrebend an.

Zu ihrer Überraschung folgte er ihr auf die Terrasse, doch anstatt sich an den Tisch zu setzen, lehnte er sich mit verschränkten Armen an die Balustrade. »Was hältst du davon?« fragte er grollend, als widerstrebte es ihm, das Gespräch zu eröffnen. »Irgendwo muß ein Schiff untergegangen sein.«

Charlotte nippte an einer frischen Tasse Tee. »Schon möglich«, sagte sie. »Vielleicht ist unser Gast aber auch von Piraten gefangengenommen und über Bord geworfen worden.«

Patrick lächelte. »Du besitzt eine lebhafte Phantasie.«

»Möglich. Aber nach den Ereignissen der letzten Zeit habe ich wohl auch allen Grund dazu.«

Patricks Augen wurden schmal, als er Charlotte nachdenklich betrachtete. »Du weißt natürlich, daß es dir und meinem Kind nie an irgendwelchen Annehmlichkeiten fehlen wird, selbst wenn ich eine halbe Welt von euch entfernt sein sollte?« bemerkte er nach langem Schweigen.

Charlotte war so schockiert, daß sie den Blick abwandte. Verdammt, dachte sie, ist er wirklich zu stumpfsinnig, um zu merken, daß ich lieber an seiner Seite hungern würde, als in Überfluß und Luxus von ihm getrennt zu leben?

»Mein Vater ist ein reicher Mann«, entgegnete sie hochmütig, weil Patrick sie verletzt hatte und sie es ihn spüren lassen wollte. »Weder das Kind noch ich werden jemals auch nur einen Penny von dir annehmen, Patrick Trevarren. Wenn du uns wirklich im Stich läßt, solltest du dich in Zukunft lieber von uns fernhalten.«

Ein gespanntes Schweigen folgte, in dessen Verlauf Charlotte das Gefühl hatte, daß ihr Herz nun endgültig gebrochen war. Als sie die Stille nicht mehr aushielt, hob sie den Kopf und schaute den Mann an, den sie so verzweifelt und hoffnungslos liebte.

»Wer weiß?« sagte sie mit gespieltem Gleichmut. »Vielleicht verliebe ich mich ja in den Fremden, der heute am Strand angespült wurde. Das wäre doch romantisch, findest du nicht?«

Patrick stieß einen derben Fluch aus, stürzte ins Haus und schlug krachend die Tür hinter sich zu.

Als er kurz darauf das Haus verließ, gefolgt von einem sehr besorgten Mr. Cochran und einer protestierenden Jacoba, nutzte Charlotte die Gelegenheit, um nach dem Schiffbrüchigen zu sehen.

Der Mann war wachsbleich und stöhnte so herzzerreißend, daß Charlotte an seine Seite eilte und seine Hand ergriff.

»Susannah«, schrie er urplötzlich und versuchte sich aufzurichten. »O Gott ... Susannah!«

Charlottes Kehle wurde eng vor Mitgefühl. »Psst«, mahnte sie leise. »Sie sind hier in Sicherheit. Haben Sie keine Angst mehr.«

Der Fremde richtete einen verwirrten Blick auf sie. Seine Augen waren von einem hellen, durchsichtigen Grün. »Sie ist ertrunken ... ich habe versucht, sie zu retten, tat alles, um ...«

»Psst«, sagte Charlotte noch einmal und strich ihm das feuchte Haar aus der Stirn. »Natürlich haben Sie alles getan, was in Ihrer Macht stand. Doch jetzt müssen Sie sich ausruhen.«

Aber der Mann warf den Kopf zurück und stieß ein langgezogenes heiseres Schluchzen aus, das aus den Tiefen seiner Seele kam.

Aus Instinkt wußte Charlotte, daß sie den Mann jetzt nicht seiner Verzweiflung überlassen durfte und packte ihn hart an den Schultern. »Sagen Sie mir, wie Sie heißen!« befahl sie.

Wieder dieses unheimliche Schluchzen, das das ganze Ausmaß seiner Trauer und Verzweiflung verriet.

»Sie dürfen jetzt nicht aufgeben!«, schrie Charlotte den Mann an, während sie sich auf die Matratze kniete und ihre Daumen in die nur schwach entwickelten Muskeln an seinen Oberarmen preßte. »Es ist ein Wunder, daß Sie noch am Leben sind, haben Sie gehört? Ein Wunder! Und das bedeutet, daß Sie noch etwas zu tun haben auf dieser Erde, bevor Sie sich ihr entziehen können! Verdammt, Mr. — kommen Sie sofort hierher zurück!«

Erstaunlicherweise schienen ihre Worte zu ihm durchzudringen, er starrte Charlotte an, als kehrte er tatsächlich von einem weit entfernten Ort zurück. »Wer sind Sie?« fragte er heiser.

Sie lächelte, stieg von der Matratze und strich ihre Röcke glatt. »Mein Name ist Charlotte Quade-Trevarren«, sagte sie.

In den nächsten Minuten erfuhr sie, daß ihr Gast Gideon Rowling hieß und aus England stammte. Er und seine junge Braut Susannah waren nach Australien unterwegs gewesen, als Piraten ihr Schiff kaperten. Einigen der Passagiere und Seeleute gelang es, in Rettungsbooten zu entkommen, unter ihnen auch die Rowlings, doch die meisten wurden ermordet, bevor die Piraten das Schiff ausraubten und es in Brand steckten.

Während des Sturms waren die Rettungsboote voneinander getrennt worden, und das kleine Boot, das die Rowlings sich mit einem alten Mann und zwei Besatzungsmitgliedern teilten, war gekentert. Als Gideon seine junge Frau zum letztenmal gesehen hatte, hatte sie ihre Hand nach ihm ausgestreckt und gellend um Hilfe geschrien.

Nachdem Gideon seinen Bericht beendet hatte, schloß er die Augen und versuchte, wieder einzuschlafen, was Charlotte ihm nicht verdenken konnte, weil der Schlaf vermutlich erträglicher als die Wirklichkeit für ihn war.